Gesellschaft für Tanzforschung
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Caroline Mitschke zum Vortrag „Wissenschaftlichkeit in den Künstlerischen Therapien: Bewegungsmöglichkeiten zwischen Beweislast und Forschungslust“ von Prof. Dr. phil. Rosemarie Tüpker

Rosemarie Tüpker kritisierte in ihrem Vortrag die Anforderungen einer evidenzbasierten Forschung in den Künstlerischen Therapien, wie sie von den Krankenkassen gefordert wird. Sie wies darauf hin, dass der Anspruch bzw. die Tatsache, diesen Anforderungen genügen zu müssen oder zu wollen, dem Wesen der Künste und der Künstlerischen Therapien paradigmatisch widerspreche. Vielmehr könnten sich diese als „Fallstricke“ für die Künstlerischen Therapien selbst erweisen. Kann wissenschaftliche Forschung jene Erkenntnisse liefern, die die Künstlerischen Therapien brauchen, wenn sie sich dafür den Kriterien der evidenzbasierten Medizin anpassen muss? Und kann wissenschaftliche Forschung neutral sein, wenn sie zweckmäßig auf eine kassenrechtliche Bewertung „zugeschnitten“ ist? Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt sich nach Tüpker ein Blick auf die unspezifischen Wirkmechanismen der Psychotherapie. Ferner sollte die von der Wissenschaft hochgehaltene Trennung von Forschen und Heilen in Frage gestellt und stattdessen eine Anwendung von kunstanalogen Methoden sowie die Berücksichtigung der besonderen Merkmale der Künste in die Forschung implementiert werden.
    
Kritische Reflexion der Anforderungen an eine wissenschaftliche Fundierung der Künstlerischen Therapien:
Tüpker begann mit einer kurzen Darstellung der von außen kommenden Anforderungen an eine wissenschaftliche Fundierung der Künstlerischen Therapien. Demzufolge sollen Forschungen aus dem Bereich der Künstlerischen Therapien  analog zur evidenzbasierten Medizin mittels randomisierter kontrollierter Studien (RCT) durchgeführt werden. Tüpker schloss dieser Darstellung eine kritische Reflexion der Anforderungen an, die sich mit dem von ihr verwendeten Begriff der „kognitiven Dissonanz“ zusammenfassen lässt: Darauf hinzuarbeiten, eine Anerkennung der Künstlerischen Therapien als Krankenkassenleistung zu erhalten, bedeute, den „Spielregeln“ der evidenzbasierten Medizin zu folgen. Darin verberge sich die Gefahr, dass jene Wesensmerkmale der Künstlerischen Therapien verloren gehen könnten, die sie so wertvoll machen. Anhand mehrerer Beispiele zeigte Tüpker diese kognitive Dissonanz auf. Kontrollierte Studien sind so aufgebaut, dass sich die Wirksamkeit vor dem Hintergrund eines Vergleichs der Effekte in einer Experimental- und in einer Kontrollgruppe nachweisen lässt. Wenn im Falle der Künstlerischen Therapien beispielsweise die Wirksamkeit der Tanztherapie bei einem bestimmten Störungsbild untersucht werden soll, könnte  die Tanztherapie-Gruppe die Experimentalgruppe und  eine Musiktherapie-Gruppe die Kontrollgruppe bilden. Dies entspräche zwar dem Studiendesign von kontrollierten Studien, jedoch würde man damit die Künstlerischen Therapien in eine künstliche Konkurrenz miteinander bringen und „die therapeutische Kollegialität der Zusammenarbeit zerstören“, so Tüpker. Mit diesem Vorgehen werde eine Wertigkeit etabliert, die zwar von kassenrechtlicher Bedeutung sei, die dem notwendigen Verbund der spezifischen Therapien der Künste aber langfristig schaden würde. Randomisierte Studien, die in der evidenzbasierten Medizin einen höherwertigen Status als kontrollierte Studien einnehmen, zeichnen sich dadurch aus, dass die Probanden_innen per Zufall der Experimental- oder der Kontrollgruppe zugeordnet werden, ohne zu wissen, welcher Gruppe sie angehören. Auf die Künstlerischen Therapien übertragen, bezeichnet Tüpker dieses Vorgehen als „fatal“, da somit die Wahlfreiheit der Therapieform für die Patient_innen nicht mehr gegeben sei. In den Künstlerischen Therapien sei jedoch die freie Wahl der Therapieform ein Wesensmerkmal und einer der zentralen Wirkfaktoren.
 
Die Verbundenheit von Forschen und Heilen:
Aus wissenschaftlicher Perspektive werden Forschen und Heilen bzw. Behandeln  häufig als getrennte Prozesse verstanden. Tüpker erläuterte, dass Wissenschaft und Kunst zusammen gedacht werden sollten, um so einen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen, statt die Kunst nur als das durch die Wissenschaft notwendig zu Erklärende zu verstehen. Kunst ist sinnliche Erkenntnis, es liegt ihr eine „Psychästhetik“ inne: Wenn ein Mensch (Patient_in) Kunst betreibt, lassen sich auf die Weise, wie er_sie dies tut (z. B. wie er_sie tanzt, singt, malt), Erkenntnisse über die Gründe seines_ihres Leidens und seines_ihres Störungsbild gewinnen. Es kann also nicht nur darum gehen nach außen beweisende, sondern auch verstehende Forschung zu betreiben.
Objektivität und Interessen in der Wissenschaft:
Wissenschaftliche Forschung strebt nach Objektivität, oder - anders ausgedrückt -    nach einem neutralen Standpunkt. Dieser Anspruch steht dem „Faktor Mensch“ gegenüber: Forschung und Wissenschaft ist soziales Handeln von Menschen, denen es gelingen muss, ihre eigenen Anteile und Interessen an der Forschung aus dem Forschungs- und Erkenntnisprozess herauszuhalten. Im Idealfall sind sie sich ihrer Interessen, Haltungen und Wertungen bewusst und es entsteht ein ständiges Reflektieren und Ringen mit den eigenen Anteilen und dem, was am Ende als ein neutraler Standpunkt gelten kann. Die Kriterien der evidenzbasierten Medizin entstanden letztlich aus den Versuchen, die Fehlerquelle „Mensch“ mittels methodischer Formalisierung so gering wie möglich zu halten, um größtmögliche Objektivität  zu generieren. Nicht selten lässt sich jedoch beobachten, dass dieser, durch bestimmte Forschungsmethoden erzeugte, neutrale Standpunkt – in Gestalt des Ausrufs „die Wissenschaft sagt“ – als Mittel zum Zweck genutzt wird, um eigene Interessen durchzusetzen. Damit wäre die Neutralität von Forschung hinfällig.
 
Das Wesen der Künstlerischen Therapien:
Die Künste stehen für Offenheit, Vielfalt, Beweglichkeit, Spiel, Autopoiesis, Unvorhersehbarkeit, noch-nicht-Dagewesenes und individuelle Vorlieben. Dies sind Eigenschaften, die kulturelles Leben ermöglichen und ausmachen und woran jeder Mensch das Recht auf Teilhabe hat. Diesem Bild der Künste steht das Modell des Körpers in der modernen Medizin –  der „Mensch als Körpermaschine“ – gegenüber: Seine Eigenschaften sind mit der Logik evidenzbasierter Medizin assoziiert. Regelhaftigkeit, Rationalität, Reproduzierbarkeit, Funktionsfähigkeit, Effektivität und ein Kosten-Nutzen-Denken. Diese Eigenschaften stehen jenen der Künste diametral entgegen. In Forschungsstudien der Künstlerischen Therapien werden beispielsweise meist modularisierte Verfahren angewendet. In der Praxis entwickeln sich die Interventionen jedoch oft aus dem Prozess und der Situation heraus und orientieren sich individuell an den Patient_innen und/oder der Gruppe.

Die unspezifischen Wirkfaktoren der Psychotherapie:
In Anlehnung an Seligman (1995) führte Tüpker fünf unspezifische Wirkfaktoren der Psychotherapie auf, die wesentlichen Anteil am Gelingen eines therapeutischen Prozesses haben und auf die Künstlerischen Therapien übertragbar sind. Sie erörterte, weshalb diese Wirkfaktoren in Studien zur Wirkweise der Künstlerischen Therapien, die den Kriterien evidenzbasierter Medizin entsprechen, kaum zum Tragen kommen können. Ein erster wesentlicher Wirkfaktor der Psychotherapie ist die freie Wahl des_r Patienten_in bezüglich der Dauer der Behandlung. In Studien ist die Dauer jedoch meist auf eine bestimmte Anzahl an Sitzungen festgelegt. Im stationären Bereich, auf die sich die meisten Studien konzentrieren, hängt die Behandlungsdauer von der Aufenthaltsdauer und weiteren Faktoren ab, jedoch weniger vom Wunsch des_r Patienten_in oder der Einschätzung des_r Künstlerischen Therapeuten_in. Studien, die ambulante  Behandlungen untersuchen, in denen eine freie Wahl der Behandlungsdauer durch den_die Patienten_in gegeben wäre, gibt es kaum. Ein zweiter Wirkfaktor der Psychotherapie bezieht sich auf das „self-correcting“. Dies bedeutet, dass Psychotherapeut_innen ihre Methodik im Laufe der Behandlung an die Patient_innen anpassen und im Therapieprozess flexibel handhaben können. Die selbstregulierende Prozesshaftigkeit stellt eines der charakteristischen Merkmale der Künstlerischen Therapien dar, die jedoch in den Studiendesigns nicht abgebildet wird. In den Studien werden meist konkrete Interventionen vorgegeben, die in einer bestimmten Reihenfolge angewendet werden müssen. Das sogenannte „active shopping“ ist ein weiterer Wirkfaktor der Psychotherapie. Patient_innen wählen durch mehrfaches Ausprobieren zum einen diejenige Behandlungsform aus, die ihnen am ehesten entspricht. Zum anderen wählen sie eine_n Therapeuten_in in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Person und Sympathie. In randomisierten Studien entfällt diese freie Wahl vollständig. Ein vierter Wirkfaktor der Psychotherapie bezieht sich darauf, dass sich Psychotherapeut_innen in den Sitzungen auf jene Probleme ihres_r Patienten_in einstimmen, deren Bearbeitung in diesem Moment am ehesten eine Entlastung bietet. Insbesondere die Künstlerischen Therapien werden oft in Bereichen oder bei Störungsbildern angewendet (z. B. Demenzerkrankungen), in denen eine individuelle Abstimmung auf das aktuelle Befinden des_r Patienten_in und das, was „da ist“, wesentlich ist. In Studien wird sich jedoch meist auf Diagnosen konzentriert, die durch festgelegte Einschluss- und Ausschlusskriterien bestimmt werden. Ein fünfter Wirkfaktor der Psychotherapie ergibt sich daraus, dass Psychotherapie meist auf die Verbesserung des gesamten Befindens und auf eine Wiederherstellung oder Steigerung der Lebensqualität abzielt. Auch die Künstlerischen Therapien behandeln nicht einzelne Symptome oder Störungen, sondern sind ganzheitlich auf das Erleben, das Leiden und das aktuelle Befinden eines_r Patienten_in ausgerichtet. Effektivitätsstudien konzentrieren sich jedoch auf eine feststellbare oder nicht-feststellbare Reduktion einzelner Symptome, wodurch das, was Künstlerische Therapien bewirken können, in den Forschungsdesigns nicht erfasst werden kann.
                  
Der künstlerische Weg der Erkenntnis:
Tüpker schloss ihren Vortrag mit einem Einblick in eine noch nicht veröffentlichte Forschungsarbeit der Promovendin Eva Terbuyken-Röhm zu Musiktherapie in geschlossenen psychiatrischen Stationen ab. Diese zeigt einen alternativen Weg kunstgemäßer Forschung jenseits einer Forschung entlang der Kriterien evidenzbasierter Medizin auf. Das methodische Vorgehen der Promovendin lässt sich als ein qualitatives zirkuläres Verfahren beschreiben, bei dem, ausgehend von einer extremen Praxissituation (kein eigener Therapieraum, nur wenig Zeit mit den Patient_innen, viele Unterbrechungen während der Therapiesitzung, offenes Angebot, ständig wechselnde Gruppenzusammensetzung), die Narzissmustheorie von Heinz Kohout als geeignete identifiziert wurde, um die Praxis („das Phänomen des narzisstischen Musikgenusses“) besser verstehen zu können. Das Wissen aus der Theorie wurde in die musiktherapeutische Praxis eingespeist, um neue Erfahrungen zu sammeln, woraufhin Hypothesen zur Fragestellung entstanden sind. Es schlossen sich Beobachtungen in der Praxis an, die dokumentiert wurden. So entstanden Falldokumentationen zu 105 Fällen.
 
Persönlicher Kommentar:
Der Vortrag von Prof. Dr. Rosemarie Tüpker folgte auf einen Vortrag von Prof. Dr. Sabine Koch. Sie zeigte Effekte und Wirkmechanismen von Tanztherapie bei verschiedenen Störungsbildern auf, die im Rahmen jener evidenzbasierten Forschung nachgewiesen werden konnten, die Tüpker in ihrem Vortrag kritisierte. Beide Vorträge waren für sich genommen stringent und lösten bei vielen Zuhörer_innen ein zustimmendes Nicken oder ein gespanntes wie interessiertes Zuhören aus, obwohl die Referentinnen gegensätzlich zu argumentieren schienen. Eine simple, aber dafür umso treffender formulierte Frage aus dem Plenum brachte die dadurch entstandene dramaturgische Spannung auf den Punkt: „Und nun? Wie sollen wir nun forschen?“ Der möglicherweise entstandene Eindruck, dass die geforderte evidenzbasierte Forschung und eine qualitative kunstanaloge Forschung einander konkurrierend oder gar ausschließend gegenüber stehen, erinnert an den alten Antagonismus von quantitativen und qualitativen Methoden in der empirischen Sozialforschung, wobei den quantitativen  – mit Gütekriterien, Effektstärken etc. arbeitende Methoden – bis heute noch bei einigen (Sozial-)Wissenschaftler_innen eine „höhere Stellung“ eingeräumt wird als den qualitativen. Inzwischen gibt es jedoch sehr viele Studien, die sich die Stärken beider methodischen Herangehensweisen zu eigen machen und sie miteinander sinnvoll kombinieren, ohne dabei eine Methode über die andere zu stellen. Auch wenn dieses Beispiel aus einer anderen Disziplin möglicherweise nicht ganz stimmig ist, zeigt es auf, dass an den Kriterien evidenzbasierter Medizin orientierte und qualitativ ausgerichtete Studien einander im Prinzip nicht antagonistisch gegenüber stehen oder einander gegenseitig ausschließen müssen. Beide methodischen Herangehensweisen haben ihre Berechtigung und ihre Stärken und sollten – nicht nur zweckgebunden – für eine wissenschaftliche Fundierung der Künstlerischen Therapien genutzt werden. Insbesondere kunstgemäße Forschungsansätze sollten unterstützt werden, damit die Wesensmerkmale der Künste in Studien langfristig zum Tragen kommen können.

Caroline Mitschke
Diplom-Soziologin
Tanz- und Bewegungstherapeutin BTD®