Gesellschaft für Tanzforschung
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Sarah Christina Weber zum Workshop „A neurobiological model of dance therapy with blended research methods“ von Rebecca Barnstaple

Die Workshopleiterin Rebecca Barnstaple ist Promotionsstudentin der Tanzwissenschaft und der Neurowissenschaft im Graduate Program der York University. In ihrem Workshop gab sie den etwa 20 Teilnehmenden einen Einblick über zurzeit stattfindende Forschungsprojekte u.a. an der York University, die zum Einen interdisziplinär arbeiten und zum Anderen einen neurowissenschaftlichen Ansatz verfolgen. Der Fokus der Forschung liegt auf den Mechanismen der Tanztherapie bei der Behandlung neurodegenerativer oder psychischer Erkrankungen, wie Depressionen und Angststörungen.

Barnstaple stellte verschiedene Studien vor, in denen die Auswirkungen von Tanz auf gelebte Erfahrung und auf die Neuroplastizität des Gehirns untersucht wurden. Anschließend führten wir einen Teil der in den Studien angewandten Tanzmethoden selbst durch und besprachen die durchgeführten Übungen hinsichtlich quantitativer und qualitativer Komponenten (vgl. Barnstaple 2019). Nach dem Übungsteil erläuterte Barnstaple ausführlich das Forschungsdesign ihrer Forschungsgruppe und insbesondere die Messmethode der Elektroenzephalografie (EEG), wofür sie eigens ein Messgerät zur Anschauung mitgebracht hatte. Abschließend diskutierten wir in der Gruppe weiterführende Fragen und welche Bedeutung dieser Forschungsansatz für die Tanztherapie hat. Wir verstehen zunehmend in der Forschung zu Neuroplastizität, dass sich die Mechanismen des Gehirns kontinuierlich neu verknüpfen und funktionell überarbeiten. Es entstehen neue Synapsen und neue neuronale Verbindungen, wenn neue Fähigkeiten erlernt und neue Erfahrungen gemacht werden. Des Weiteren werden Synapsen und neuronale Verbindungen durch Wiederholung und regelmäßiges Praktizieren gestärkt, Prozesse, die in der sogenannten grauen Masse des Gehirns stattfinden (vgl. Barnstaple 2019). Lange Zeit ging man in der Neurowissenschaft bzw. im Bereich der Neuroplastizität davon aus, dass sich bei Lernprozessen primär die Nervenzellen (Neuronen) verändern. Inzwischen konnte mehrfach nachgewiesen werden, dass die strukturelle Konnektivität, die sogenannte weiße Masse des Gehirns – Axone umhüllt von der Myelinschicht – ebenfalls deutlich zunimmt und sich auch im hohen Alter weiter verändern kann. Interessant ist hier die Studie von Rehfeld et al., auf die Barnstaple hinwies, die die Neuroplastizität bezüglich der weißen und grauen Gehirnmasse besonders eindrücklich im Vergleich zwischen konventionellem Fitness Training und komplexen Tanz- und Choreografieübungen mit älteren Menschen nachweisen konnte. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass „[w]e were able to demonstrate in a randomized intervention trial that dancing has a strong potential to induce more positive effects on brain volumes in elderly people. […] our specially designed six-month dancing program increased volumes in regions which relate to higher cognitive processes such as working memory and attention.“ (Rehfeld et al. 2018: 10) In der aktuellsten Studie, mit der Beteiligung von Barnstaple, wird auf die Messmethode des EEG zurückgegriffen. Diese bietet den Vorteil, dass sie mobil eingesetzt werden kann und keine größeren medizinischen Geräte, wie ein langwieriges und aufwändiges bildgebendes Verfahren der Magnetresonanztomografie (MRT) benötigt, das in vielen bisherigen Studien zur Neuroplastizität eingesetzt wurde. Das EEG-Messgerät, ein Emotiv EPOC® EEG Neuroheadset, das die Forschungsgruppe um Barnstaple nutzt und welches beim Workshop kurz demonstriert wurde, wird direkt vor und nach einer Tanzeinheit eingesetzt und misst die Alpha-Wellen. Als Alpha-Welle wird ein Signal im Frequenzbereich zwischen 8 und 13 Hz bezeichnet. Ein verstärkter Anteil von Alpha-Wellen wird mit leichter Entspannung bzw. entspannter Wachheit bei geschlossenen Augen assoziiert. Gemessen werden individual alpha peak frequency (iAPF) und individual alpha peak power (iAPP) im Vergleich zwischen  Untersuchungsgruppe und Kontrollgruppe. Dabei gibt es Unterschiede zwischen der rechten und linken frontalen iAPP. Neben der EEG-Messung kamen die Geriatric Depression Scale, General Anxiety Disorder test, Patient Health Questionnaire und Quality of Life measure zum Einsatz. Ein Ergebnis der Messung war, dass die Veränderung der iAPP mit dem Verhalten und der Stimmung der Testpersonen sowie ihrer Antworten auf Fragebögen und Beobachtungen bezüglich ihres Verhaltens korreliert (vgl. Barnstaple, DeSouza 2018: 13-16).

Im praktischen Teil des Workshops beschäftigten wir uns anfangs mit Körperwahrnehmung und der Stimulation des Körpers. Dies passierte durch verschieden intensive Berührungen und der Aktivierung einzelner Körperteile mit einfachen Bewegungsvorgaben. Die Übung erweiterte sich um zielgerichtete Bewegungen im Raum. Anschließend wurden sechs Körperteile bzw. Extremitäten benannt und je zwei von ihnen im raschen Wechsel miteinander bewegt. Ziel war es, das gesamte neurologische System des Körpers zu aktivieren und miteinander zu verbinden. Wir gingen über zu Bewegungen im Raum in rhythmischer Abfolge (move, move, pause). Es folgten individuelle, selbstgewählte Pausen und es entstanden Interaktionen durch das Füllen der Lücken zwischen den anderen Teilnehmenden. Im nächsten Teil wurde zunehmend Kreativität, Multitasking und Reaktionsvermögen herausgefordert. Auf Zuruf sollte eine Pose 1 gewählt werden, dann Pose 1 wiederholt und eine Pose 2 gewählt, abschließend Pose 1 und 2 wiederholt und Pose 3 eingenommen werden. Es folgte gemeinsames Gehen durch den Raum mit einer Partnerin: rückwärts, sich voneinander entfernend, ohne die Verbindung zu verlieren. Wir gingen über ins Spiegeln, ohne festzulegen wer führt. Dann verzögerte eine Person die Bewegung, anschließend vergrößerte sie die andere. Zum Abschluss kamen alle Teilnehmenden im Kreis zusammen und eine gab reihum eine Bewegung für die anderen vor. In einer Diskussionsrunde sammelten wir motorische, kognitive und sozial-emotionale Aspekte, welche durch die ausgeführten Übungen angesprochen werden. Barnstaple nennt sie zusammengefasst wie folgt:
- auf der Körper- und Bewegungsebene spricht sie von Kriterien wie: motor control (timing), motor sequencing, memory, range of motion, balance, flexibility, multisensory integration, attention, cognitive loading, multitasking, task switching, entrainment, reaction times, cueing (internal/external)
- auf der inhaltlichen, sozial-emotionalen Ebene erwähnt Barnstaple als messbare Elemente: social aspects, music, emotional expression, mood, creativity, pleasure, reward, quality of life, learning, group cohesion, agency, life space (vgl. Barnstaple 2019)

Während der Abschlussdiskussion wurde der Gedanke formuliert, dass sich die Forschung Barnstaples primär auf Tanz bezieht. Die Konsequenz ist, dass in der Forschung Auswirkungen der Bewegung auf das Gehirn untersucht werden. Wie Prof. Dr. phil. habil. Sabine C. Koch in ihrem Vortrag am selben Tag betont hat, findet in der Tanztherapie ein Bewusstwerden, auch im Sinne einer verbalen Reflexion, einer ,Übersetzung in Sprache' statt. Hier schließt sich die Frage an, ob Barnstaples Forschung diesen Aspekt ebenso berücksichtigen kann? Die Chancen des von ihr verfolgten Forschungsansatzes wiederum liegen meines Erachtens einerseits darin, aus einer neurobiologischen Perspektive Erkenntnisse zu gewinnen, die bspw. ebenfalls im medizinischen Bereich Anerkennung finden, ohne auf randomisierte Studien in großem Format zurückgreifen zu müssen. Und andererseits auch darin, detailliert herauszufinden, was im menschlichen Gehirn durch Bewegung passiert. Was macht der Tanz mit uns? Letztlich: Wie wirkt Tanz? Deutlich wurde indes, dass die Technik den Anforderungen zur Untersuchung von Tanz, also dem Mensch in Bewegung, noch nicht gerecht wird. Bisher können komplexe Aufnahmen des Gehirns nur bei Stillstand des Körpers gewonnen werden. Die mobilen Geräte, die Barnstaple nutzt, müssen in aufwendiger Kleinstarbeit auf jedes Blinzeln des Auges geprüft werden. Hier kann uns die Technik in ein paar Jahrzehnten vielleicht noch andere Möglichkeiten bieten. Abschließend bleibt festzuhalten, dass es sicherlich für alle beteiligten Wissenschaften bereichernd ist, an der Forschung zu Tanztherapie im Austausch zu bleiben und ähnliche Forschungsprojekte wie das von Barnstaple zu stützen, die einen interdisziplinären Ansatz verfolgen und deren Ziel langfristig der Aufbau einer breiten Datenbasis ist, auf die alle Forschenden zugreifen können (vgl. Barnstaple, DeSouza 2018: 16).

„We offer that dance, and therapeutic applications of dance techniques, have a vital role to play in the regeneration of individuals and society; moreover, this is not a new discovery, but rather a reassertation of the purpose and power that dance traditionally held“ (Barnstaple, DeSouza 2018: 16).

Literatur:
Barnstaple, Rebecca (2019): A neurobiological model of dance therapy with blended research methods. Unveröffentlichte Präsentationsfolien vom „Forschungstag Tanztherapie: ,Tanz wirkt! Wirkt Tanz?'“ am 11.05.2019.

Barnstaple, Rebecca; DeSouza Joseph FX (2018): Dance and Neurorehabilitation
Mixed-Methods Research Models. In: Functional Neurology, Rehabilitation and
Ergonomics, Vol. 7, No. 1.

Rehfeld, Kathrin; Lüders, Angie; Hökelmann, Anita; Lessmann, Volkmar; Kaufmann,
Joern; Brigadski, Tanja et al. (2018): Dance training is superior to repetitive
physical exercise in inducing brain plasticity in the elderly. In: PLOS ONE 13(7):
e0196636. doi.org/10.1371/journal.pone.0196636

Weiterführende Literatur:
Bar, Rachel; DeSouza Joseph FX (2016): Tracking Plasticity: Effects of Long-Term Rehearsal in Expert Dancers Encoding Music to Movement. In: PLOS ONE 11(1): e0147731. doi.org/10.1371/journal.pone.0147731

Barnstaple, Rebecca; Hackney, ME; Fontanesi, C; DeSouza, Joseph FX. (2019;
accepted, in press): Mechanisms of dance in the rehabilitation of neurodegenerative
conditions. In: Journal of Functional Neurology, Rehabilitation, and Ergonomics.

Sarah Christina Weber
Diplom-Pädagogin, Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie
Psychotherapeutische Tanztherapeutin in Weiterbildung (PITTH)
Arbeitet aktuell als Ausbildungsbegleiterin in der Ausbildungsvorbereitung an einer
Berufsschule mit Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten und/oder psychischen
Beeinträchtigungen