Gesellschaft für Tanzforschung
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Aruna Dufft zum Workshop „’Practitioner Research' am Beispiel der Erforschung des subjektiven Erlebens tanztherapeutischer Angebote im Kontext körperlicher Erkrankungen, medizinischer Behandlung und daraus folgendem traumatischem Stress“ von Prof. Dr. Andrea Goll-Kopka

Im Rahmen des Forschungstags Tanztherapie 2019 stellte Andrea Goll-Kopka in ihrem Workshop die Forschungsmethode Practitioner Research vor und motivierte die Anwesenden sich selbst als Forscher_in zu verstehen und in diesem Sinne aktiv zu werden. Der Workshop begann mit einer theoretischen Einführung, auf die ein partizipativer Teil folgte und schloss mit einem Bericht von ihrer Praxis und der daraus resultierenden Forschung. Gleich zu Beginn stellte Andrea Goll-Kopka heraus, wie relevant gelingende Netzwerke und intensiver Austausch mit Kolleg_innen für erfolgreiche  Forschung sind. Auch der Kontext der Forschung sollte wohl bedacht sein, weil Forschung nicht immer nur Spaß macht, sondern sich zwischen Abenteuerlust, Erkenntnisgewinn und trockener Buchhaltung bzw. systematisiertem Vorgehen bewegt. Besonders motivierend war wohl für einige  Praktiker_innen Andrea Goll-Kopkas Bemerkung, dass sie selbst ihre Dissertation erst mit 50 Jahren schrieb und dass sie diese aus ihrer praktischen Arbeit  entwickelt hat. An ihrem Beispiel wurde deutlich, dass es nicht zwingend notwendig ist, von der Universität kommend, mit dem vermeintlichen Rüstzeug ausgestattet in Forschungsaktivitäten zu starten, sondern dass vielmehr genau die praktische Erfahrung eine Qualifikation zu Forschungsaktivität ist. Die Referentin löste dann auch gleich einen weiteren Mythos auf, der nach wie vor viele davon abhält in die Forschung zu gehen: Dass Forschung quantitativ sein müsse. Sie betonte in diesem Zusammenhang auch explizit, dass forschen und heilen nicht getrennt gesehen werden sollen, sondern zusammen gehören. Practitioner Research kommt aus dem systemischen Ansatz. Die Intention dieses Forschungsansatzes ist es, neues Wissen und neue Erkenntnisse zu generieren.  Practitioner Research verfügt über einen eigenen Methoden-Kanon. Das einzige Unterscheidungsmerkmal zu akademischer Forschung ist die Position und Rolle des_der Forschenden im Forschungsprozess. Ein Practitioner Researcher ist ein_e Forscher_in, der_die innerhalb der Einrichtung, in der er_sie praxisbezogen tätig ist, gleichzeitig forscht. Diese besondere Position unterscheidet ihn_sie von einem_r Forscher_in, der_die aus der Universität kommend, sich einem Gegenstandsbereich in der Praxis nähert. Ein wichtiges Thema im Forschungskontext ist dementsprechend die Rollenkonfundierung, also der mögliche Rollenkonflikt, der sich daraus ergeben kann. Da Forschung zunächst bedeutet Daten zu sammeln, kann dies in Konflikt zur therapeutischen Begleitung geraten: Der klinische Auftrag könnte mit der Forschung kollidieren. Um dies zu vermeiden, sind Intervision, kollegialer Austausch und Supervision sowohl Voraussetzung, als auch elementare Bestandteile des Qualitätsmanagements der Forschung. Zugleich ist die absolute Stärke des Practitioner Researcher, dass der_die Forschende per se tief im Thema ist. Wie jede wissenschaftlich fundierte Forschung, beinhaltet Practitioner Research eine systematische Datenerhebung, die methodisch stringent, transparent und nachvollziehbar sein muss. Für das Gelingen der Forschung ist es wichtig, eine Forschungsmethode zu wählen, die zum jeweiligen Forschungsgegenstand passt.

Die folgenden vier Methoden stehen zur Wahl:
1. Die Quantitative Methode bezeichnet die Erhebung von Zahlen anhand von Fragebögen, Skalen etc. Dies ist die gängigste, wissenschaftlich fundierte Forschungsmethode, weshalb der Mythos entstanden ist, es sei die einzig valide und reliable.
2. Die Qualitative Methode bezeichnet die Erhebung verbaler Daten und ist geleitet vom Interesse an der subjektiven Wahrnehmung und dem Erleben der Menschen, mit denen wir arbeiten. Die Erhebung erfolgt z.B. anhand von Tiefen-Interviews, halb-standardisierten Fragebögen, Gruppen-Diskussionen oder Fokus-Gruppen. Die daraus generierten Daten werden transkribiert. Diese Daten zum subjektiven Erleben können quantitative Daten und die dort zu erkennenden Dynamiken validieren und so dem quantitativen Datenmaterial Bedeutung geben. Sie können aber auch für sich stehen. Qualitative Datenerhebung kann und soll selbstverständlich systematisch, stringent und transparent erfolgen.
3. Der Mixed Method-Ansatz bezeichnet die Triangulierung bzw. Kombination von Methoden zur Datengenerierung. Quantitative Daten (Zahlen) werden quasi mit qualitativen Daten (verbale Daten) „angereichert“. Konkret kann das z.B. der gleichzeitige Einsatz von Interviews und Fragebögen sein. Insbesondere empirische Pilot-Forschungen können auch auf kleineren Stichproben basieren. Die Methoden-Triangulation ermöglicht die Untersuchung einer Dimension einer Forschungsfrage über verschiedene Zugänge. Dieser Ansatz erhöht die Validität der Daten, weil die Ergebnisse der einen Methode die Ergebnisse der anderen Methode erklärbar oder besser verständlich machen können. Es werden zusätzliche Details generiert und Erkenntnisfortschritte erzielt. Daraus entstehen oft weitere Forschungsfragen und konzeptuelle Weiterentwicklungen.
4. Arts-based inquiry bezeichnet Kunstbasierte Forschung. Sie nutzt Kunst (z.B. künstlerischen Bewegungsausdruck, Bilder, Gedichte u.ä.) für die Datenerhebung und die Beantwortung von Wissens-, Erkenntnis- und Forschungsfragen. Neben der Erhebung der Daten ist auch die Darstellung der Daten relevant, die in einem künstlerischem Format erfolgen kann. Diese relativ junge Methode befindet sich an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft und trägt der Akzeptanz von Bewusstsein, Wissen und Bedeutung jenseits von Sprache Rechnung. Damit trifft kunstbasierte Forschung genau den Kern dessen, was wir Tanztherapeut_innen in der Praxis permanent ermöglichen und erleben: Den Zugang zu kinästhetischem, sensorischem, emotionalem und motorischem Wissen.

Andrea Goll-Kopka machte die relevanten Schritte der Forschung und ihre Reihenfolge deutlich:
1. Die Auftragsklärung im „Forschungsauftrags-Karussel“:
Die Klarstellung des persönlichen, organisatorischen, beruflichen und wissenschaftlichen Kontexts sollte zu Beginn des Forschungsprozesses stehen. Hierzu gehört z.B. die Frage: „Warum will ich forschen?“ Im Rahmen dieser Situationsanalyse werden geheime und offene Aufträge geklärt, z.B.: „Ich möchte meine Praxis mehr verstehen“, „Ich möchte meinen Vater erfreuen“, „Ich möchte auf der Karriereleiter weiter kommen" etc.
2. Es ist wichtig, eine ehrliche Ressourcen-Analyse im Hinblick auf die persönliche, berufliche, finanzielle und familiäre Situation zu machen.
3. Man muss den wissenschaftlichen Hintergrund klären, also eine Literatur-Recherche mit der Fragestellung machen, was es bereits im eigenen Gegenstandbereich an Forschung und Literatur gibt. Wenn es noch wenig gibt, ist das gut und man kann ein Pilot-Projekt starten. Forschung heißt immer auch, sich in den aktuellen Wissenschafts-Diskurs einzuordnen.
4. Man sollte ethische Fragestellungen bedenken. Es ist wichtig, sich im Klaren darüber zu sein, welche Implikationen die jeweilige Forschung bzw. Forschungsfrage aufwirft. Auch die Perspektive der Klient_innen sollte mitgedacht werden. Auch hier ist es außerordentlich gewinnbringend die ethischen Themen mit Kolleg_innen gemeinsam zu reflektieren, um blinde Flecken zu vermeiden. In so gut wie allen beruflichen Kontexten existieren  ethische Komitees, die hier unterstützen können.
5. Es wird ein Forschungs-Exposé erstellt, welches den Zweck der Studie, die Relevanz der Fragestellung und die Einordnung in den herrschenden Diskurs veranschaulichen soll. Je klarer die Fragestellung formuliert ist, desto machbarer ist die Studie, desto leichter ist sie zu Ende zu bringen und desto eher wird sie gefördert. Matthias Ochs’ Artikel „Ein kleiner „Leitfaden“ für die Durchführung systemischer Forschungsvorhaben (nicht nur) für Praktiker“ sei hier empfohlen.
6. Man erstellt das Forschungs-Design, das die vorhandenen und die benötigten Ressourcen ermittelt und die Durchführung der Forschung mit den Methoden zur Datenerhebung und zur Auswertung, die Einordnung in den wissenschaftlichen Diskurs und eine Zusammenfassung des gesamten Vorhabens beschreibt.

Nach dieser anregenden Einführung ins Thema gingen die Workshop-Teilnehmer_innen in Kleingruppen zusammen, um sich konkret über ihre Forschungsinteressen auszutauschen, um sich zu unterstützen in der Klarifizierung möglicher Fragestellungen, um zu „netzwerken“ und um die Theorie mit der Praxis zu verbinden. Die folgenden Fragestellungen unterstützten uns dabei:
1. Motivlage: Warum will ich forschen? Wohin geht meine Abenteuerlust? Was möchte ich damit erreichen? Persönliche Analyse der eigenen Ziele.
2. Gegenstandsbereich/Thema: Welche Fragen beschäftigen mich im Inneren? Zu welchen Fragen würde ich gerne Expert_in werden? Welche (Forschungs-)Fragen ziehen mich magisch an?
3. Analyse der eigenen Ressourcen, zeitlich, persönlich und beruflich: Austausch mit anderen Praktiker_innen, die auch forschen wollen, Kooperationen bilden und Netzwerke knüpfen.

Zum Abschluss des Workshops berichtete Andrea Goll-Kopka von ihrer aktuellen Forschungsarbeit über Traumatisches Stresserleben. Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Psychologin, Psychotherapeutin und Tanztherapeutin, sowohl in eigener Praxis als auch in Institutionen, hatte sie viele Berichte von Patient_innen mit körperlichen (Stress-)Symptomen gehört, die im Laufe des Prozesses von negativen Zuschreibungen zu den Symptomen in der Kindheit berichteten. Anamnestisch ergaben sich dann - im Rahmen regelhafter medizinischer Behandlung - Grenzverletzungen (z.B. im Kontext von Diagnosestellungen oder unangemessener Aufklärung) im Zusammenhang mit körperlichen Symptomen. Diese Zusammenhänge zwischen dem momentanen Befinden ihrer Patient_innen, insbesondere Gefühlen von Ohnmacht, Angst vor Kontrollverlust u.ä., und den Grenzverletzungen im medizinischen Kontext machten Andrea Goll-Kopka hellhörig und veranlassten sie zu intensiver Literaturrecherche zum Thema. Sie wendete in den Therapien ein multimodales Vorgehen mit künstlerischen und körperbezogenen Interventionen an. Um qualitative verbale Daten zu generieren, bat sie ihre Klient_innen ihr E-Mails zu schreiben, mit deren subjektiver Meinung zu dem, was in der Therapie passiere. Diese Daten wertete sie anhand von Philipp Mayrings narrativer Textanalyse aus: Sie arbeitete Wirkfaktoren aus, erstellte Kategorien (z.B. Was ist Selbsterleben?) und entwickelte ihr Forschungsdesign mit Beschreibung der Studienlage und drei Fallbeispielen von Tanztherapie.

Der Workshop endete in einer Art Aufbruchsstimmung mit viel Motivation, dem intensiven Wunsch nach Vernetzung und mit Mut und Offenheit für Forschung. Wenn Andrea Goll-Kopkas Ziele für diesen Workshop waren, den Anwesenden Lust und Mut zu machen, ihre eigene Praxis zu „beforschen“, diese Forschung als Abenteuer zu verstehen und zu erleben und sich vom Mythos Forschung nicht einschüchtern zu lassen, dann hat sie diese auf ganzer Linie erreicht. Die Vorfreude auf den nächsten Forschungstag Tanztherapie und auf ein Forschungskolloquium mit dem Schwerpunkt Practitioner Research ist geweckt und wird hoffentlich in die Umsetzung führen.

Literatur:
Goll-Kopka, Andrea (2019) Traumatisches Stresserleben im Kontext körperlicher Erkrankung und Behinderung. In: Zeitschrift Psychotherapie im Dialog, Sonderheft Traumafolgestörungen, 87-90.

Ochs, Matthias (2012) Ein kleiner „Leitfaden“ für die Durchführung systemischer Forschungsvorhaben (nicht nur) für Praktiker. In: Handbuch Forschung für Systemiker. Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht, 423-448.
Aruna Dufft
Tanztherapeutin (BTD), Anthropologin M.A.
Tanz- und Bewegungstherapeutin in der Psychiatrischen Tagesklinik für Kinder und Jugendliche der Asklepios-Klinik Sankt Augustin, Dozentin am Ditat e.V. Bonn